Ausstellungen
Neue Malerei (2001)
Werkanalyse eines Werkes von Siegfried Kiontke
von Michael Becker
Analyse der Arbeit Komposition I
Mischtechnik auf Hartfaserplatte
84 x 56 cm
Analyse des Werkes Komposition I
Das zu analysierende Werk ist in einem gemäßigt spannungskontrastiven Format gehalten. Dieses garantiert der Betrachtung einen bequemen Verlaufsweg von links nach rechts, begünstigt dadurch die Vermittlung narrativer Gehalte.
Im vorliegenden Beispiel wird durch den Formatcharakter eher ein besonderer rhythmischer Aspekt betont, der für die herrschende „positive“ Wahrnehmungslinie verantwortlich ist. Wir können wahrlich von einem Wahrnehmungsverlauf sprechen.
Dieser beginnt einerseits, durch die stärkere Farbigkeit (reines leuchtendes Rotorange) als primäre Verankerung zu deuten, am unteren linken Bildrand, andererseits durch die oberhalb der Bildmitte, ebenfalls am linken Bildrand ansetzende olivfarbene Form, weiterhin durch das kontinuierliche Größerwerden der „Stuhlbeine“ als Verlauf von links unten nach etwas oberhalb der Bildmitte am rechten Bildrand. Wir erleben also drei homophon strukturierte Stimmenführungen (Homophonie bedeutet, wir haben eine Hauptstimme, da sie die Wahrnehmung primär berührt; in diesem Falle ist die rotorange Stimme die Hauptstimme), die der positiven, also von links unten nach rechts oben führenden Verlaufsrichtung folgen.
Wir können deshalb von Stimmen sprechen, da jede der drei die Wahrnehmung charakteristisch führt.
Konzentrieren wir uns zunächst auf die rote homophone Stimme. Interessant ist, dass die sichtbare Unterkante der Stuhlsitze durch farbliche Vereinheitlichung als zusammengehörig markiert wird. Das wird vom Autor bestimmt. In dieser Bestimmung drückt sich die aktive selektive Wahrnehmungsleistung des Autors aus. Farbe wird für ihn zu einem Medium, selektive Wahrnehmungsprozesse zu veranschaulichen und die besondere Wertigkeit des ungewöhnlichen Blicks zu verdeutlichen.
Der Autor bestimmt, dass das und das, eine bestimmte kategoriale Einheit, als neue Ordnung sichtbar und damit erfahrbar gemacht werden soll. Die farbliche Vereinheitlichung steht hier als Sinnbild der synthetischen Kraft, aus der der ungewöhnliche Blick auf die Dinge resultieren soll. Auf welcher Grundlage steht nun die Entscheidung, z.B.. Die sichtbare Unterkante der Stuhlsitzfläche rot zu kolorieren? Wobei man betonen muss, dass wirklich alle Bestandteile einer selektiv herausgelösten Kategorie des sichtbaren Bereichs dem Prinzip der farblichen Zusammenschmelzung unterworfen werden und dabei keine Ausnahme gemacht wird.
Jedenfalls kann man objektiv prognostizieren, dass diese zur Verfügung gestellte Arbeitsbasis eine Vielfalt an Entscheidungsfindungen ermöglicht. Der Autor muss eine Gradwanderung vollziehen: Einerseits folgt er seinem selbst auferlegten Diktum, eine Kategorie innerhalb der sichtbaren Dimension zu definieren, um diese dann auf der Grundlage der farblichen Vereinheitlichung anschaulich zu realisieren. Andererseits muss er entscheiden, ob sich die Selektion dieser oder jener Kompositionsstimme „lohnt“. Diese Art der vom Autor vollzogenen Synthetischen Malerei nimmt eine gegenständlich motivierte Auffassung zum Ausgangspunkt (hier eine bestimmte Konstellation von Stühlen zueinander).
Das Prinzip der farblichen Kategorisierung kann dabei als ein grundsätzlicher Mechanismus verstanden werden, sich von gegenständlicher Doktrin z.B. in einem rein reproduktiven Verhalten grundsätzlich zu lösen. Denn die gegenständlich motivierte Vorlage wird regelrecht als Experimentierfeld der klanglichen Umkreisung der Selektionsmöglichkeiten genommen.
Die gegenständliche Darstellung ist damit Ausgangslage und nicht Ziel des Projekts. Die gegenständlich motivierte Ordnung wird nicht um ihrer selbst willen entwickelt, sondern unter der autonomen Maßgabe des Autors regelrecht ausgeschlachtet. Die gegenständliche Vorlage, die das penetrante Bekannte zeigt, wird über die realisierenden Entscheidungen des Autors zur Quelle ungewöhnlicher Wahrnehmung. Das, was die gegenständliche Vorlage nicht hergibt, sondern aufgrund der gegenständlichen Doktrin die Wahrnehmungsfähigkeit auf die Interpretation von Bekanntem verkürzt, ist allerdings objektiv da, bleibt aber unabhängig der selektiven Leistung des Autors unbekannt und unerfahren.
Erst durch die farbkompositorische Veranschaulichung des neuen Blicks auf die Dinge werden deren Komponenten in einem neuen Lichte wahrgenommen.
Also was erleben wir hier?
Die Werkgestalt in ihrer aktuellen Erscheinung lässt die Rekonstruktion zu, dass es eine bestimmte Arbeitsvorlage gegeben haben muss. Diese wird nun unter der Regie des Autors derart verfremdet, dass dem Betrachter fünf voneinander trennbare Kategorien entgegentreten:
der blaue Plan des oberen Hintergrundes inklusive der Stuhlsitze,
der olivfarbene Plan der Stuhllehnen,
der rotorange Plan der sichtbaren Sitzflächenkanten,
der blaue Plan der Stuhlbeine,
der olivfarbene Plan des unteren Hintergrundes.
Hieran wird klar, was mit Ausschlachtung des Gegenständlichen gemeint ist: Es geht nicht um die Kolorierung von Gegenständlichkeit, sondern um die selektive Inszenierung von Klangmustern, die ausgewähltes Resultat des selektiven Vereinheitlichungsprozesses mittels Farbe sind.
Wird nun die Entscheidung getroffen, dies oder jenes farblich zu vereinheitlichen, so besteht keine Möglichkeit, irgendwelche Partien, die zu der bestimmten Kategorie gehören, weg- oder auszulassen. D.h. die Entscheidung, eine Kategorie farblich zu realisieren, ist eine Entscheidung über Güte bzw. Nichtgüte, also über die Qualität der erkannten und realisierten Klangstrukturen.
Allerdings ist dem Projekt ein besonderer Forschungscharakter eingeschrieben, der die Möglichkeiten erkundet und noch nicht bewertet. Hier wäre zu hinterfragen, inwieweit das konsequente Verfolgen des auferlegten Arbeitsprinzips eine genuin ästhetische und kreative Herangehensweise verhindert. Welche Chancen und Risiken birgt die Handlungsformel?
Um zu einem klangvollen Ergebnis zu kommen, muss eine Selektion der Selektion stattfinden. Für den kreativen Akt kann es nicht ausreichen, eine Kategorie zu definieren, um sie dann durch farbliche Vereinheitlichung visuell erfahrbar zu machen. Die Forschungsreihe muss einer Bewertung unterzogen werden. Der Autor ist nicht in der Lage, objektiv vorhandene Intervallstrukturen zu verändern, da er an das von ihm entwickelte Arbeitsprogramm gebunden ist. Diese Bindung zwingt dazu, die definierte Kategorie auszuformulieren, sie zwingt also zur Konsequenz und zur Beachtung der Wahrung der entwickelten Randbedingungen. Der Autor muss offensichtlich von einer Arbeitsvorlage ausgehen, die von vornherein eine besondere Güte, also ein objektives Klangpotential aufweist, das er, vermittelt über sein Arbeitsprogramm, in das aufnehmende Bewusstsein des Betrachters hebt.
Auf der anderen Seite ist es möglich, angesichts jeglicher Art von Vorlage entsprechende Programme abzuwickeln, um dann zu entscheiden, ob der Akt der Kategorisierung Früchte getragen hat oder nicht. Nur vor diesen beiden Alternativen (klangvoll versus nicht gelungen) kann der Autor überhaupt stehen. Denn er untersteht seiner selbst auferlegten Doktrin, nichts hinzuzufügen oder wegzulassen, was nicht der Kategorisierung entspricht. Aus diesem Grunde muss die Arbeitsvorlage für den Autor einen besonderen Hoffnungscharakter tragen, da ein Projekt, das das Kriterium „Nichtgelungenheit“ anvisiert, sich im Bereich eines willkürlichen Arbeitens aufhielte.
Der Forschungscharakter der Arbeit, an der sich die Idee eines Forschungsprojektes eröffnet und das der Autor tatsächlich praktiziert, muss dabei dem oben formulierten Anspruch „Selektion der Selektion“ entsprechen. Die Arbeitsformel des Autors ist also ein Instrument, Gegenständlichkeit zugunsten eines in ihr vermuteten versteckten Klangpotentials auszuschlachten, um ihr nachträglich eine vermittelte Würdigung entgegenzubringen, die sich aus einer intensiven Konfrontation mit ihr speist.
Die Arbeitsformel des Autors gründet sich auf besonderen Voraussetzungen:
Gegenständlichkeit wird zunächst augenscheinlich nicht um ihrer selbst willen behandelt. Aus ihr wird etwas gehoben, das objektiv da ist, aber nicht im Bewusstsein des Betrachters und zunächst auch nicht in dem des Autors.
Die Arbeitsformel entwickelt geradezu ein Schema des ungewöhnlichen Blicks auf die Dinge. Ein kreatives Anliegen hat sich als Formel kristallisiert. Dabei muss zugleich das Kriterium der Selektion der Selektion greifen, im Sinne einer nachträglichen Auswahl.
Der kreative Akt reduziert sich nicht auf die gedankenlose Anwendung der Arbeitsformel. Einerseits vermag der Autor in ungeahnte Welten einzudringen, die auch ihm verborgen blieben. Andererseits muss er die Fähigkeit aktivieren, qualitative Maßstäbe zu setzen. Er muss in der Lage sein, bedeutungsvolle von bedeutungslosen Beziehungen zu unterscheiden.
Mit dem vorliegenden Werk befindet sich Siegfried Kiontke in einer ersten Phase des Herantastens an und Erspürens von „brauchbaren“ Klangkonstellationen. Bemerkenswert ist der besondere Effekt, der durch die Anwendung der Arbeitsformel entsteht: Die Formel definiert die Kategorie „sichtbare Stuhlsitzkante“ als zusammengehörige Stimme, und die Formgebung dieser Stimme zeigt sich als vollkommen gegenstandsentrückt.
Die objektiv gegebene Konstellation wird durch den Kategorisierungs- und Realisierungsakt Kiontkes zu ihrem wirkungsvollen Recht verholfen. Welche sinnlichinhaltliche Bedeutung wird durch die homophone Stimme freigesetzt? Markant ist die grundsätzlich positive, eben aufsteigende Richtung, die der gesamte Wirkungskomplex einschlägt. Die positive Grundtendenz wird von einer abwechslungsreich strukturierten Linie gezogen, die einerseits in der ansteigenden Richtung graduelle Unterschiede aufweist, in der gegentendierenden Abfallenden ebenfalls unterschiedliche Dicke- und Richtungsgrade zeigt.
Dieses Wechselspiel im Rahmen der klaren aufsteigenden Tendenz führt zu einer besonderen bewegten Rhythmik, die in Verbindung mit der Farbgebung zu einem fast glühenden Symbol synthetischer Kraft wird. Das glühende Band gewinnt aufgrund der farblichen Verschmelzung eine eigenständige klangliche Qualität, die durch die synthetische Leistung der Arbeitsformel aus dem Reich des Unsichtbaren in das Reich des Sichtbaren und Erfahrbaren transferiert wurde.
Wenden wir uns der Deutung der „Stuhlbeine“ zu, so erkennen wir die konsequente farbliche Ignoranz gegenüber gegenstandsrealistischer Darstellung: Die formal perspektivische Einrichtung (vordere Stuhlbeine sind größer als die hinteren) wird farblich nicht unterstützt, da von dem gleichreinen Blau belegt. Aufgrund der Dogmatik der Arbeitsformel (keines der Stuhlbeine darf weggelassen oder hinzugefügt werden), dasselbe Blau für alle definierten Bestandteile zu verwenden, entfernt sich Kiontke „notgedrungen“ von einer gegenstandsmotivierten Farbverwendung; vielmehr wahrt sie das autonome Potential von Farbe.
Dieses wird dazu genutzt, sachhaltige Strukturen, die eine objektive Existenz aufweisen, zu heben und dadurch überhaupt erst zu realisieren. Die synthetische Leistung der Arbeitsformel, selbstverständlich immer unter der Regie des Autors stehend, verhilft der von Kiontke erkannten Klangqualität der Beziehungsdynamik der Stuhlbeine zu sich selbst.
Durch die isolierende, praxisenthobene Sichtweise erhalten diese sonst in gewohnter Sichtweise gefangenen Elemente eine eigenständige Lebendigkeit, die sie – wie gesagt – von vornherein besitzen, aber nur durch eine ungewöhnliche, sensible Wahrnehmung aufgespürt und erfahrungsbildend umgesetzt werden. Das Werk Kiontkes wird dadurch zum Bildungsgegenstand, da es in der Lage ist, mit suggestiven, d.h. wahrnehmungsführenden bildnerischen Mitteln im Betrachter Einsichten zu entfalten, die zu einem ungewöhnlichen Blick auf die Dinge motivieren können.
Die Stühle sind nicht mehr zum Sitzen da. Deren gehobenes ästhetisches Potential lädt vielmehr zum ehrfurchtsvollen Betrachten ein in der ständig wachsenden Einsicht der Schönheit in und zwischen den Dingen.
Michael Becker
Leiter der Wiesbadener freien Kunstschule